Plausibilitätsbetrachtungen zur Potentialprognose

Wir haben zur Plausibilisierung 2 verschiedene Ansätze gewählt:

Der erste Ansatz geht von den Fahrgastzahlen der heutigen Busse aus. Als Faustformel der Erfahrungen früherer Reaktivierungen gilt, dass bei gleicher Fahrzeit von Zug und Bus im Zug mindestens doppelt so viele Fahrgäste fahren wie im Bus (sogenannter „Schienenbonus“). Hintergrund ist die Erfahrung, dass Autofahrer im allgemeinen nicht auf Busse umsteigen, was durchaus verständlich ist, steht der Bus doch genauso im Stau und ist durch die Zwischenhalte immer langsamer. Ist der Zug schneller als der Bus, wie es bei Leutkirch – Isny zu erwarten ist (Bus ca. 40 – 45 Minuten, Zug etwa 25-30 Minuten Fahrzeit), ist mit deutlich mehr als einer Verdopplung der Fahrgastzahlen zu rechnen, z.B. einer Verdreifachung. Uns liegen die leider vertraulichen Besetzungszahlen der heutigen Busse nicht vor. Wir haben deshalb vorsichtig versucht, die Schülerzahlen anhand eigener Erhebungen etwas genauer abschätzen: Danach gibt es über 500 Schülerfahrten pro Schultag. Bei Regionalbussen machen Schüler häufig etwa 3/4 der Fahrgäste aus. Daraus ergäben sich werktäglich über 600 Fahrgäste pro Tag im Bus und, bei einer Verdopplung bis Verdreifachung, dann etwa 1200 bis 1800 im Zug.

Ein zweiter Ansatz zur Abschätzung der Fahrgastzahlen geht von den Einwohnerzahlen der anliegenden Orte aus. Hier fällt zunächst auf, dass es in Baden-Württemberg nur 8 Städte ohne Bahnanschluss gibt, die größer sind als Isny (siehe Tabelle). In Bayern gibt es sogar nur einen Ort, der größer ist als Isny und keinen Bahnanschluss hat (Kelheim). Es gibt hierzu die Faustformel, dass die Zahl der werktäglichen Ein- und Aussteiger etwa 10 bis 20 % der Einwohner ausmachen, wobei der untere Wert für einen ungünstig liegenden Bahnhof gilt, der obere für einen sehr günstig liegenden. So hat der Kemptener Hauptbahnhof bei ca. 65 000 Einwohnern zurzeit etwa 6500 Ein-/Aussteiger werktäglich. Der Bahnhof liegt hier bekanntlich ungünstig in Randlage. In Lindau mit ca. 25 000 Einwohnern und sehr zentral liegendem Bahnhof gibt es etwa 5000 Ein-/Aussteiger werktäglich. Bei Leutkirch – Isny ergäben sich für Leutkirch mit ca. 24 000 Einwohnern beim unteren Eckwert mindestens 2400 Ein-/Aussteiger pro Werktag, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass dieser Wert für ein optimales Zugangebot mit täglichem Stundentakt gilt, das Leutkirch derzeit noch nicht hat, aber künftig zu unterstellen ist. Außerdem handelt es sich um die Summe aus allen Relationen, also in Leutkirch für Fahrgäste Richtung Memmingen, Kißlegg und Isny. Unterstellt man Richtung Isny ganz grob ein Drittel dieses Wertes, ergäben sich hier über 800 Ein-/Aussteiger werktäglich. In Isny mit 14 000 Einwohnern und damit mindestens 1400 Ein-/Aussteigern werktäglich sind auch die Richtungen nach Kempten, Wangen und Röthenbach zu berücksichtigen. Mit dem Schienenbonus (siehe oben) und der groben Annahme, dass sich die Fahrgäste etwa gleichmäßig auf die Richtungen aufteilen, ergäben sich nach Leutkirch dann 2/5 der 1400, also etwa 550 Ein-/Aussteiger pro Werktag, in den übrigen Relationen je 1/5. Beide Städte zusammen kämen damit auf über 1350 Fahrgäste pro Werktag. Zu erwähnen ist, dass die Einwohnerzahlen von Isny und Leutkirch in den vergangenen Jahren gestiegen sind und mit einem weiteren Zuwachs gerechnet wird.

Diese Plausibilitätsbetrachtungen bestätigen damit die Richtigkeit der Ergebnisse des Gutachtens von Uli Grosse.

NrNameKreisEinwohner
1SchrambergRottweil21148
2TettnangBodenseekreis19437
3PfullingenReutlingen18657
4BrackenheimHeilbronn16147
5KünzelsauHohenlohekreis15450
6MarkgröningenLudwigsburg14799
7Bad WurzachRavensburg14607
8BrühlRhein-Neckar-Kreis14321
9Isny im AllgäuRavensburg14191
Tabelle: Alle Orte in Baden-Württemberg ohne Bahn- oder Strassenbahnanschluss, die größer sind als Isny

Anmerkung 1: Als Mindestwert für eine Reaktivierung gilt häufig ein Wert von 500 Fahrgästen pro Werktag (Summe aus beiden Fahrtrichtungen). Dieser Grenzwert gilt z.B. in der Schweiz als Bedingung für einen täglichen Stundentakt, wie er auch für Leutkirch – Isny angestrebt wird. In den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts galten in Bayern die 500 auch als Grenzwert für die damals häufigen Streckenstilllegungen. Strecken mit über 500 werktäglichen Fahrgästen wurden erhalten. Ein strengerer Maßstab sind 1000 Fahrgäste je Werktag, die manche Bundesländer, die Reaktivierungen skeptischer sehen, als Grenzwert für Reaktivierungen fordern. Ab diesem Wert ist die Bahnwürdigkeit einer Strecke bundesweit außerhalb jeder Diskussion.

Anmerkung 2: Potentialprognosen sind nicht unumstritten. In der Praxis hat sich leider häufig gezeigt, dass die Prognosen bei der späteren Realisierung der Projekte nicht eintrafen.  Bei Reaktivierungen, gerade auch in Baden-Württemberg, wurden später oft viel höhere Fahrgastzahlen erreicht, als in der Prognose erwartet wurden. Ursache ist, dass man zwar die Zahlen der Pendler, insbesondere der Schüler, recht genau vorhersagen kann, nicht jedoch den Bereich des sogenannten Freizeit- und Gelegenheitsverkehrs, der in den letzten Jahren, nicht nur bei der Bahn, stark gestiegen ist. Bei Strecken im touristischen Gebieten, wie dem Allgäu, ist diese Ungenauigkeit von Prognosen daher naturgemäß besonders hoch.

Anmerkung 3: Zu berücksichtigen sind noch 3 verschiedene Definitionen von „Fahrgast“. Bei der ersten Definition, die die höchsten Fahrgastzahlen ergibt, zählt jeder Einsteiger in den Zug als Fahrgast. Da dann ein Fahrgast, der nur eine Station fährt, genauso viel zählt wie einer, der die ganze Strecke fährt, wird diese Definition nur selten verwendet. Außerdem führt diese Definition dazu, dass längere Strecken automatisch höhere Fahrgastzahlen ergeben. Bei einer zweiten Definition wird deshalb die durchschnittliche Besetzung der Züge ermittelt, die sich aus der Multiplikation jedes Fahrgastes mit den vom ihm gefahrenen Kilometern geteilt durch die Streckenlänge ergibt. Diese Definition ergibt sehr niedrige Werte und wurde deshalb früher gern verwendet, wenn man Streckenstilllegungen begründen wollte. Heute verwenden sie noch die Länder, die Reaktivierungen skeptisch beurteilen. Am weitesten verbreitet ist eine dritte Definition, die maximale Querschnittsbelastung, die z.B. bei S-Bahnen oder in Verbundräumen üblich ist. Dieser Wert ergibt sich aus der Summe der Besetzungszahlen aller Züge auf dem Streckenabschnitt, wo dieser Wert am höchsten ist. Er ist unabhängig davon, wie weit die Fahrgäste fahren und wie lang die Strecke ist. Außerdem kann daraus abgeleitet werden, wieviel Platzkapazität die Züge benötigen. Da zwischen Leutkirch und Isny die meisten Fahrgäste die ganz Strecke befahren werden, dürfte hier der Unterschied zwischen den Definitionen eher gering ausfallen.

Dieser Beitrag wurde von Andreas Schulz verfasst.